Institut für Bayerische Geschichte
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Die letzten und die ersten Tage

Herausgegeben von Silvia Wimmer unter Mitarbeit von Sabine Berger, Eva Breitenbach-Grill, Claudia Friemberger, Ferdinand Kramer, Dora Ostendorf, Bettina Scherbaum

"The Bavarian follows what he is told to do blindly..." Ein Geschichtsbuch der etwas anderen Art - Schüler schreiben für Schüler: "Die letzten und die ersten Tage. Amerikaner und Bayern begegnen sich. Fremdsicht und Eigenwahrnehmung am Ende des Zweiten Weltkriegs im Landkreis Ebersberg".

Die 72 Seiten starke Broschüre, die am 22. Oktober 2008 in einer Abendveranstaltung am Humboldt-Gymnasium Vaterstetten präsentiert wurde, unterscheidet sich von herkömmlichen Geschichtsbüchern in einem zentralen Punkt: Sie wurde von Schülern selbst verfasst. Zum Abschluss einer sich über ein halbes Schuljahr erstreckenden historischen Spurensuche schrieben Schüler zusammenfassende Darstellungstexte, suchten passende Quellen aus und formulierten dazu Aufgaben. Eher ungewöhnlich ist ferner die Tatsache der  Zusammenarbeit zwischen Realschule und Gymnasium. Schul- und schulartübergreifend beteiligten sich fast 120 Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 9a, 9c, und 9d des Humboldt-Gymnasiums Vaterstetten sowie die Klasse 9c der Staatlichen Realschule Vaterstetten als Autoren. Ergänzt werden die Schülerbeiträge durch einführende Kapitel von Lehrern, Archivaren und Professoren. Die Broschüre ist somit auf Verwendung im Unterricht ausgelegt, soll aber aufgrund neuer Ergebnisse und unbekannter Quellen auch diejenigen zum Schmökern anregen, die sich allgemein für die ereignisreiche Umbruchsphase am Ende des Zweiten Weltkriegs und speziell die gegenseitige Wahrnehmung von Besiegten und US-Besatzern interessieren.

Erstes historisches Denkwerkprojekt in Bayern

Entstanden ist das Geschichtsbuch im Rahmen eines von der Robert Bosch Stiftung geförderten Denkwerkprojekts. Von diesen insgesamt 34 aktuell im gesamten Bundesgebiet laufenden Vorhaben ist es das erste in Bayern aus dem Fachbereich der Geschichtswissenschaft. Die Anlage der Broschüre, in der Beiträge von Schülern, Lehrern, Professoren gleichberechtigt nebeneinander stehen, führt die zentrale Idee der „Denkwerkprojekte“ bildlich vor Augen: die Vernetzung von Schülern, Lehrern und Wissenschaftlern. Schüler werden in enger Zusammenarbeit mit universitären Einrichtungen – hier primär mit dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität, vertreten durch Prof. Dr. Ferdinand Kramer - an aktuelle geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungen herangeführt. Dies geschieht  mit der Zielsetzung, Einblicke in mögliche Berufsfelder zu gewähren und den Übergang zwischen Schule und Universität fließender zu gestalten. Indem die Schüler der von der Geschichtswissenschaft erst jüngst entdeckten Fragestellung der gegenseitigen Wahrnehmung von Einheimischen und US-Besatzern nachgehen, betreten sie Neuland, werden selbst zu Forschern. Grundlage sind dabei Quellenbestände, die wissenschaftlich bislang kaum ausgewertet sind.

Ergebnisse

Die erste Begegnung zwischen der einheimischen Bevölkerung und den amerikanischen Soldaten verlief in der Regel relativ friedlich. Die von seiten der SS angeordneten Maßnahmen, die dem Vormarsch der feindlichen Truppen, z.B. durch Aufstellung von Panzersperren, aufhalten sollten, wurden von mutigen Bürgern, die ihr Leben riskierten, häufig in letzter Minute rückgängig gemacht und damit die Voraussetzung für eine friedliche Begegnung geschaffen. Dennoch kam es in der Folge immer wieder zu Konflikten: durch die Einquartierungen der US-Soldaten bei Einheimischen, hierdurch auftretende Sachschäden, ferner durch Plünderungen und sonstige kriminelle Delikte von beiden Seiten sowie schließlich durch den strengen Vorschriftenkatalog, mit dem die amerikanische Militärregierung die öffentliche Sicherheit gerade für die eigenen Truppen herzustellen versuchte. Vorurteile existierten auf beiden Seiten schon vor dem ersten Zusammentreffen. Gelegentlich wurden sie bestätigt, gelegentlich revidiert. Im Laufe des gegenseitigen Annäherungsprozesses entstanden neue Pauschalurteile. Waren viele Einheimische, beeinflusst von der NS-Rassenlehre, häufig überrascht von der Freundlichkeit der „Neger“, die trotz des geltenden „Fraternisierungsverbots“ großzügig Süßigkeiten oder andere kleine Geschenke verteilten, so ist im Jahresbericht der US-Militärbehörde des Landkreises Ebersberg (1946) ein vernichtendes Urteil über die bayerische Bevölkerung nachzulesen: Der bayerische Bauer sei politisch schlecht informiert und folge dem Urteil der katholischen Kirche. „The Bavarian follows what he is told to do, blindly, and is very poorly informed as to the general situation. He is not intelligent enough to understand the reason for the conditions of the country…” Schonungslos fielen oftmals auch die Urteile über die eigene Bevölkerung aus. Geradezu leitmotivisch tauchen Klagen der Pfarrer über das “würdelose” Benehmen der weiblichen Bevölkerung gegenüber den US-Soldaten auf.  

Projektverlauf

Von Februar bis Juli 2008 beschäftigten sich die beteiligten Schülerinnen und Schüler mit der skizzierten Fragestellung. Nach einer einführenden Vorlesung zum Thema Kriegsende und amerikanische Besatzung im Institut für Bayerische Geschichte durch Herrn Prof. Dr. Ferdinand Kramer lernten sie auf Exkursionen wissenschaftliche Einrichtungen wie Archive oder Bibliotheken kennen. Sie forschten vor Ort im Archiv des Erzbistums München und Freising, indem sie dort Kriegs- und Einmarschberichte  der bayerischen Pfarrer ihrer Heimatgemeinden untersuchten. In der Schule übersetzten und analysierten sie Akten der amerikanischen Militärbehörde des Landkreises Ebersberg, nach ihrer Erscheinungsweise unterschieden in sogenannte War Diaries, Monthly Reports und Annual Reports. Nach einer Begegnung mit dem Zeitzeugen Franz Pfluger aus Zorneding verfassten sie unter Berücksichtigung weiterer Quellen an einem Projekttag im Juni Textbeiträge für die Broschüre, die sie nach Durchsicht der beteiligten Lehrkräfte Frau Breitenbach Grill (Humboldt-Gymnasium), Frau Berger (Humboldt-Gymnasium), Frau Ostendorf (Staatliche Realschule Vaterstetten) und Frau Dr. Wimmer (Humboldt-Gymnasium) überarbeiteten. Lernen erfolgte fächerübergreifend: Neben der Verknüpfung von Geschichte und Englisch bei der Auswertung der amerikanischen Quellenbestände fand eine Verbindung zum Informatikunterricht statt. Um klassenzimmer- und schulübergreifend arbeiten zu können, wurden alle Ergebnisse der Quellenanalyse in die vom Bayerischen Kultusministerium empfohlene E-Lernplattform Moodle eingestellt und damit für alle Beteiligten verfügbar gemacht. Erfahren haben die Schüler auch, wie viele Schritte notwendig sind, um eine Publikation zu verfassen. „Wie viel Arbeit es ist, eine Broschüre zu erstellen“ – lautete das Fazit einer Schülerin/eines Schülers im Rahmen der Evaluation des Projekts unter der Rubrik: "Das nehme ich mit."

Ausblick

Das Denkwerkprojekt wird im laufenden Schuljahr fortgesetzt und räumlich ausgeweitet. Unterstützt vom Haus der Bayerischen Geschichte erarbeiten Schülerinnen und Schüler der Anton-Heilingbrunner-Realschule Wasserburg, des Gymnasiums Bad Aibling, des Chiemgau Gymnasiums Traunstein sowie des Humboldt-Gymnasiums Vaterstetten eine Wanderausstellung zur Besatzungszeit in den Landkreisen, die ab Oktober 2009 in den beteiligten Schulen zu sehen sein wird.

Bezug der Broschüre

Aufgrund der großzügigen finanziellen Unterstützung durch die Robert Bosch Stiftung kann die Broschüre Interessenten kostenfrei überlassen werden, solange der Vorrat reicht. Sie ist über das Humboldt-Gymnasium Vaterstetten, Johann-Strauß-Str. 41, 85598 Baldham zu beziehen (bitte frankierten Rückumschlag in DIN A 4 beilegen).

Eine detailierte Projektdarstellung finden Sie auf den Seiten der Robert-Bosch-Stiftung.


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